Yamaha YZF-R1 2009

Mit Valentino Rossi auf dem Sozius zwischen realem Wahnsinn und erlebter Realität über Birlenbach nach Katzenelnbogen.

2009er Yamaha YZF-R1 in schwarz gold

Einschneidende, außergewöhnliche Erfahrungen sind die Würze des Lebens. Das liegt in der menschlichen Psyche: Besondere Erlebnisse, die starke Emotionen hervorrufen, prägen und bleiben einem ein Leben lang im Gedächtnis (der erste Kuss, die erste Fahrt im Auto, wilde Parties mit Polizeibesuch, ...).
Tägliche Routine hingegen ist flüchtig (was gab's gestern in der Kantine? Welche Hose hatte ich vorgestern an?).

So kann ich mich  immer noch sehr gut erinnern, wie das vor sechs Jahren war, als ich das erste mal auf einer 2003er Yamaha YZF-R1 gefahren bin, noch mit dem bärigen Ur-R1-Motor aber verbessertem Handling. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir von damals die Szene auf der Autobahn: Das erste mal Vollgas mit 150PS, über 250km/h, der Helm wird vom tosenden Fahrtwind hin- und hergebeutelt, Autos verschwimmen zu farbigen Streifen und formen daraus ein impressionistisches Bild der gerade aufgerissenen Lücke im Raum-Zeit-Kontinuum. Die  Wahrnehmung wurde von der R1 aus der Menschen- in die Falken-Perspektive emporgehoben.

Zwei Jahre später probierte ich dann die damals neue R1-Generation mit dem unten schwächer und obenraus aggressiver gewordenem Motor. Stärkste Eindrücke dieser Fahrt waren das anschwellende Unterwelt-Konzert der Remus-Höllentrompeten beim ersten Vollgas auf einer kurzen Geraden und die unerwartete Sprung-Attacke des Tanks auf mein Gesicht bei Vollgas und Tempo 200 über eine kleine Bodenwelle.

Mittlerweile sind vier Jahre vergangen und es gibt eine erneute, fundamentale Überarbeitung der R1. Meine letzte Fahrt mir einem Motorrad der Königsklasse (Hannes' Kilogixx) liegt auch schon wieder zwei Megafeten zurück  - höchste Zeit also, den Schatz einschneidender Erfahrungen auszubauen!

So bin ich also Mitte Mai zum Zweirad Meuer in Diez gefahren und habe freundlich nach einem Tanz mit der Debütantin gefragt, was wohlwollend beschieden wurde.
Yamaha YZF-R1 2009
Der optische Eindruck der R1 ist zwiespältig, leider nicht zu vergleichen mit dem "ooh, aah"-Erlebnis des sehr  gelungenen Vorgängermodells. Der Verkäufer war zudem so ungeschickt, mich ungefragt auf die wahrhaft scheußliche Kennzeichenhalterung hinzuweisen. Normal wäre mir das nicht so sehr aufgefallen, aber einmal darauf aufmerksam gemacht, fällt es schwer, diese Anmutung eines Ackerpfluges wieder aus dem Bewusstsein zu streichen. 
Die mattschwarz-güldene-Lackierung kompensiert den ein oder anderen Design-Mangel und lässt die R1 wertig und aggressiv wirken, wenn auch etwas zerklüftet und am Heck unvorteilhaft proportioniert.
Umgekehrt passt die Optik gut zum Techno-Krad-Charakter.der R1. Nun aber runter von der Tribüne, rauf in die onboard-Perspektive!

Die Sitzposition früherer R1en hatte für mich immer gut gepasst, mit minimalem Verbesserungspotential. Die 2003er hätte bspw. etwas höhere Stummel haben dürfen, die 2005er einen etwas kürzeren Tank.
Nichts von alldem auf der '09er: Diese R1 ist von Honda - glaubt man dem Klischee der hervorragenden Honda-Ergonomie.
Die Sitzposition, die Ergonomie - absolut PERFEKT! Wahrscheinlich liegt es daran, dass Valentino und ich ungefähr die selbe Länge haben. Es gilt das Romika-Schuh Prinzip: Draufsitzen. Und wohl fühlen! Die R1 sitzt mir so gut  wie meine besten maßgeschneiderten Anzüge und wirkt genauso positiv auf das Selbstvertrauen und souveränes, lockeres Auftreten. Selbst, wenn man das vom Motorengeräusch suggerierte Drehmoment beim Anfahren überschätzt und die Kiste fast abwürgt, hoppala.

Womit wir bei den ersten Erfahrungen mit dem Motor wären. Im Leerlauf klingt die ganze Angelegenheit eher unspektakulär, etwas rauh und holprig, von der Lautstärke her sehr zurückhaltend. Meine Erwartung wird hier nach den Lobhudeleien in der Presse etwas enttäuscht. Ich kenne noch die Leerlaufgeräusche der 90er-Jahre Superbikes, damals hatte ich ein Soundfile von Scott Russells gurgelnd-mahlend-röchelnder YZF750RR im Leerlauf als ersten digitalen Klingelton. Und das prächtigste Geräusch, dass ich jemals in meinem Leben gehört habe, war eine in einem geschlossenen Raum angelassene Superbike-RC 30.
Das, was die gesetzteskonforme R1 im Leerlauf abliefert, hat damit so viel zu tun wie die Schulfest-Gesangsdarbietung der Klasse 4b mit einem AC/DC-Konzert.

Der kleine faux pas beim Anfahren macht mir  auch deutlich, dass dieser Motor, wie auch die zwei Wochen vorher gefahrene '09er R6, ein Motor mit sehr geringen Schwungmassen ist und deshalb anfangs mehr Drehzahl braucht als ein V-Strom V2 oder andere, touristischere Aggregate. Etwas mehr heißt hier aber mindestens 3k/min, gerne auch über 5k/min. Das ist im Vergleich zur R6 vertretbar und wirkt nicht übertrieben hektisch.

Das erste Einrollen durch den Stadtverkehr ist verblüffend. Die R1 fühlt sich auf den gleichen Reifen (Pilot Power 2ct) leichter und handlicher an als meine 2002er R6 - und das wird auch auf der Landstraße so bleiben.  Ich erinnere mich noch an die damaligen Testberichte zur R6, über die "revolutionäre, ultra-, ja fast überhandliche und nervöse R6 mit 250er Ausmaßen". Nach wie vor ist die alte R6 sicher kein schwerer, unhandlicher Eisenhaufen. Im direkten Vergleich mit der neuen R1 bleibt aber der  Eindruck eines vergleichsweise metallischen, etwas zu solide gebauten Motorrades. Auch der mechanische Gasgriff im Vergleich zum extrem leichtgängigen elektronischen Griff der R1 spielt hier eine Rolle. Im Vergleich zu den früheren Modellen ist diese erlebte Handlichkeit und spielerische Leichtigkeit ein gigantischer Schritt!

Raus, auf die Landstraße - eher weitere Bögen, zwischendurch mal 90°-Kurven und ein paar kurze Zwischengeraden. Zeit zum Spielen! Bei der ersten Möglichkeit gebe ich der R1 Feuer und beschleunige in die oberen Drehzahlregionen. Ich drehe am Griff und ernte - eine Fernseheinblendung!

Vor dem inneren Auge zu sehen ist eine onboard-Perspektive vom Höcker, vorne turnt eine blau-weiß-neongelbe Kombi mit der Aufschrift "The Doctor" auf dem Motorrad. Der Sound ist original DSF, das Motorengeräusch  erinnert mich sofort an diese immer wieder gern gesehenen Aufnahmen. DAS also bedeutet "born from MotoGP!".
Die Freude ist leider von kurzer Dauer, denn mit höherer Geschwindigkeit - und die erreicht man schnell, sehr schnell sogar - gewinnen die Windgeräusche Oberhand.

Fein, so läuft das hier also, macht Spaß! Ermutigt vom tollen Handling, der perfekten Sitzposition und den Anfeuerungsgeräuschen von unten steigere ich die Geschwindigkeit und strebe das Tagesziel an: Mindestens einmal volle Leistung abrufen!
Auf den schnelleren Passagen gebe ich früh und kräftig Gas, Valentino kommt kurz ins Bild und die R1 schiebt gleichmäßig und sehr kräftig vorwärts. So kräftig, dass die nächste Kurve recht zügig näher kommt und die Bremse gefragt ist. Stabil liegt die R1 in dieser Phase, die Bremsen selbst funktionieren ordentlich, nicht zu bissig aber auch nicht zu stumpf - kurzum: Einfach gut, sauber dosierbar und ansonsten unspektakulär. Ein wenig mehr Biss könnte sie vertragen, aber das kommt mglw. noch, wenn die Beläge ordentlich eingelaufen sind.

Beim Einlenken, in Schräglage und beim Herausbeschleunigen verhält sich die schwarze Rakete absolut verlässlich. Das Fahrwerk ist spricht sehr feinfühlig an und wirkt nicht sehr hart, das Feedback vom Straßenbelag ist dadurch nicht übertrieben transparent. Das stört aber nicht, denn die Federelemente schlucken die kleinen und mittelgroben Unebenheiten einfach weg ohne ins Schaukeln zu kommen, die R1 verfolgt vollkommen neutral und präzise die anvisierte Linie und lässt sich dabei von nichts aus der Ruhe bringen.  Auch hier gilt also das Romika-Prinzip: Anbremsen, einlenken, angasen. Und sich wohl fühlen!
Keine Ahnung, wie das Yamaha so hinbekommt, aber es ist ein sehr gutes, stabiles und vertrauenseinflössendes Gefühl! So vertrauenserweckend, dass ich immer mutiger werde und schliesslich das Tagesziel erreiche: Raus aus der Kurve, volle Leistung für ein paar Sekunden, 180PS reissen an der Kette, die schwarze R1 schiesst auf der Landstraße in wenigen Augenblicken von 60 auf >230km/h in wenigen Sekunden, d.h. jede HALBE Sekunde lege ich über dreißig Meter zurück (natürlich nur auf abgesperrter Strecke).  BOOAAAAH, AAAAAAHHHHHHHHHH!
Yamaha YZF-R1 2009
BOAH? AAAHHH? "Boah" sollte jetzt eigentlich das Gefühl sein - ist es aber nicht.
Die ganze Angelegenheit spielt sich nicht einmal sondern vier oder fünfmal ab. Zweimal lande ich dabei sogar kurz im Begrenzer. Aber das alles läuft so sauber ab, so gut kontrollierbar, so vorhersehbar. BOAH bleibt deswegen zu Hause. Die BOAH-Momente leben vom Gefühl des "Ui, das hat mich jetzt aber überrascht" und "Kerle, das war knapp, das hab' ich gerade noch so hingekriegt!" oder "Mann, dann hat das Ding gewackelt und ausgekeilt, dass es mich fast runtergeschmissen hätte!".
Auf der R1 gibt es aber nichts in dieser Richtung. Da muss man nichts auf der letzten Rille korrigieren, da gibt's kein Rudern im Fahrwerk, keine Panik beim plötzlichen Einsetzen der Wahnsinns-Leistung, keine Höllentrompeten zum Angriff der Unterwelt, keine Bremse mit ständiger Überschlagsdrohung, kein Tank, der einem unverhofft ins Gesicht springt.
Das fährt einfach, kontrollierbar und ganz sachlich unvorstellbar schnell, bremst wieder runter und fährt, genau wie geplant, auf korrekter Linie durch die Kurve.
 
Das ist die eigentliche Sensation an der neuen R1: Was von der nüchternen Betrachtung her im höchsten Maße spektakulär und lebensgefährlich ist, nämlich auf kürzester Strecke auf deutlich über 200 zu beschleunigen, schneller zu fahren, als es mit fast jedem anderen straßentauglichen Gefährt möglich ist, das alles bringt einem auf der R1 nur ganz unmerklich durch die normale Konzentration zum Schwitzen. Normaler, warmer Arbeitsschweiß, kein plötzlicher kalter Angstschweiß!
Die gefühlte Sensation bleibt einfach aus, weil die bösen Überraschungen fehlen, um das hierfür notwendige Adrenalin auszuschütten. Die R1 ist sicher eines der besten, fahrbarsten und effizientesten Sport-Motorräder, die aktuell zu kaufen sind.

Auch das ist eine einschneidende, außergewöhnliche Erfahrung, aber eben eine, die sich erst durch die rationale Analyse ergibt! Wahrscheinlich wird mir die R1 dennoch eine gehörige Zeit lang in Erinnerung bleiben.